Scharnhorst

scharn01Wer sich mit den preußischen Reformen beschäftigt, trifft unweigerlich auf Gerhard von Scharnhorst. Sein Lebenslauf umfasst eine außerordentlich ereignisreiche Zeitspanne.

Sie beginnt kurz vor dem Siebenjährigen Krieg und endet wenige Wochen vor der Völkerschlacht bei Leipzig. Dazwischen liegen der Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht, die Französische Revolution, Selbstbehauptung und Untergang des friderizianischen Preußen, schließlich der Aufstieg und Niedergang Napoleons.

 

12.11.1755
Geburt in Bordenau
1773 Aufnahme in die Militärschule des Grafen Wilhelm zu Schaumburg-Lippe auf dem Wilhelmstein
1782 Lehroffizier an der Artillerieschule in Hannover
1785 Heirat mit Clara Christiane Johanne Schmalz
1793 Teilnahme am Feldzug in den österreichischen Niederlanden
(1. Koalitionskrieg gegen Frankreich)
1801 Übertritt in preußische Dienste

Lehrstabsoffizier an der Akademie für junge Offiziere Berlin

Direktor der „Militärischen Gesellschaft“

1803 Tod seiner Frau Clara
1804 Generalquartiermeister im Generalstab

Die zentrale Bedeutung Scharnhorsts in der preußischen Reformära steht längst nicht
mehr in Frage. Aus heutiger Sicht ist er Vordenker und Motor der preußischen
Heeresreformen. Er gibt der Kriegführung in einer der großen europäischen
Umbruchphasen eine neue militärische und politische Gestalt. Die von ihm angelegten
und betriebenen Heeresreformen belegen den Aufbruchs in die Moderne:

  • eine vernünftig strukturierte Führungsorganisation,
  • die Überwindung ständeorientierter Hierarchien,
  • die Professionalisierung des Offizierkorps, nicht zuletzt auch
  • die Herausbildung und Vermittlung einer neuen, tragfähigen,
    gemeinsamen Identität.

Scharnhorst ist Vordenker der allgemeinen Wehrpflicht. Vor allem ist er jedoch ein Bildungsreformer. Und er fordert die humane Behandlung des Soldaten als Bürger mit eigener Ehre und setzt diese durch. So ist er bis heute vielen ein Vorbild für eigenständiges, verantwortliches und sittliches Handeln. Das von ihm geprägte soldatische Ethos – Eintreten für Staat und Volk, für Freiheit und Recht, für Verantwortungsbewusstsein und eigenständiges, sittlich gebundenes Verhalten – wurde zu einer der Maximen für die Stellung des Soldaten in Streitkräften, Staat und Gesellschaft.

Zu seiner Zeit blickt man auf zu Gerhard von Scharnhorst – selbst die großen Dichter, Denker und Philosophen seiner Zeit. Kaum jemand kann seine Lebensleistung treffender würdigen, als sein berühmtester Schüler Carl von Clausewitz: „Was der General Scharnhorst in seiner Laufbahn Ruhmwürdiges geleistet hat, besteht theils in dem Einflusse, den er als Schriftsteller auf die deutsche Kriegskunst ausgeübt, theils in der neuen Gestaltung des preußischen Heeres und Kriegsstaates nach der Katastrophe von 1806, welche von ihm ausging, endlich in dem Einfluß seiner politischen Ansicht als Staatsmann, in der für Preußen und Deutschland verhängnißvollsten Zeit”. Er ist ein Fixstern am politischen-militärischen  Himmel Preußens – Clausewitz sagt: der „Mittelpunkt des europäischen Staatensystems”.

Scharnhorst ist nicht der klassische, geschniegelte preußische Paradeoffizier, der insbesondere durch seine untadelige Haltung hoch zu Ross beeindruckt. Er verkörpert einen Offizier neuen Zuschnitts. Seine äußere Schlicht­heit, seine Besonnenheit und die Komplexität seiner Gedanken unterscheiden ihn von seinen Zeitgenossen. Für ihn bedeutet Offizier sein: die Befähigung zum prak­tischen Truppendienst, einen Blick für die Realität und Augenmaß bei Reformen. Der militärische Führer kann seine praktischen Erfahrungen anderen vermitteln, indem er sie gedanklich ordnet, konzeptionell aufbereitet und nach durchdachten Grundsätzen ausbildet.

scharn2Und Scharnhorst lebt vor, was er denkt und schreibt. Er ist zwar detailbewusst, versteht das Detail jedoch als Teil eines militärischen, politischen und gesellschaftlichen Gesamtzusam­men­hangs. Er ist überzeugt, dass der Offizier in vollem Umfang in das politische Leben eingebunden sein muss, um alle militärisch relevanten Einflussgrößen sach- und fachgerecht beurteilen zu können. Entsprechend handelt er. Das Mitgliederverzeichnis der von ihm mitgegründeten „Militärischen Gesellschaft“ ließt sich wie ein „Who is Who“ der politischen und militärischen, geistigen und kulturellen Größen seiner Zeit.

 

1806
Beförderung zum Generalmajor

Vositz in der Militär-Reorganisationskommission

1808 Chef des neuen Allgemeinen Kriegsdepartements

Verordnungen zur Heeresreform

1810 1. Entwurf zur Ausführung der „Konskription in den preußischen Staaten“
1813 „Verordnungen über die Aufhebung der bisherigen Exemption von der Kantonspflichtigkeit für die Dauer des Krieges“ (Allgemeine Wehrpflicht)
28. Juni Tod in Prag durch die Folgen seiner Verwundung in der Schlacht bei Großgörschen

Beisetzung zunächst in Prag, später Überführung nach Berlin

Scharnhorst besticht durch Bildung, überzeugt durch Ideen und prägt durch sein Vorbild. Er ist leidenschaftlicher Soldat und glühender Patriot, fähiger Organisator und brillanter Militärtheoretiker, fürsorglicher Familienvater und versierter politischer Denker. Er nimmt sich Zeit zum Nachdenken. Er fasst dessen Ergebnisse in schlüssige, tragfähige Konzepte. Dann setzt er sie um. Für Arndt ist er ein Mann, „der nicht Ideen in sich aufjagt, sondern über Ideen ausruht.” Dies belegen seine militärtechnischen Untersuchun­gen, aber ebenso seine Bildungskonzepte und sein Ansatz erfahrungsorientierter Wissensvermittlung. Scharnhorsts Selbstverständnis, sein Vorbild und seine Überlegtheitimponieren seiner Umgebung und prägen sie.

Scharnhorst ist ein exzellenter Truppenführer. Er stellt dies gegen die französischen Revolutionstruppen mehrfach unter Beweis. Bei dem Ausbruch aus der eingeschlossenen Festung Menin spielt er in Planung und Führung die entscheidende Rolle. Die vorbildliche Leistung wird mit der späteren Beförderung zum Major honoriert. In Menin wird übrigens erstmals Scharnhorsts Verständnis von Auftragstaktik aktenkundig. Er schreibt: „Ich hatte nicht den Befehl zu bleiben, ich führte die Infanterie nur hin. Aber niemand nahm sich der Sache an …“

Die Erweiterung und Vertiefung der Bildung des Offizierkorps ist die Voraussetzung für das von Scharnhorst angestrebte Führen durch Auftrag. Er will gebildete Offiziere. Sie sollen im Vergleich zu den zivilen wissenschaftlichen Eliten mithalten können. Der Offizier soll seine Bildung, seine Erfahrung und seine Fertigkeiten an Führer und Mannschaften weitergeben. Hierzu werden in der Ausbildung des Offizierkorps Urteilsfähigkeit, Vorstellungsvermögen und geistige Beweglichkeit geschult und geschärft. Auf diese Weise werden seit Scharnhorst über Moltke bis heute im Offizierkorps geistige und auch charakterliche Grundlagen zu selbständigem Handeln gelegt. So kann sich Auftragstaktik in den preußischen Streitkräften des 19. und 20. Jahrhunderts entwickeln und entfalten. Dass die Freiheit des Denkens, das eigenständige Urteil auch in den Widerstand führen kann, ja muss, stellen die Männer des 20. Juli 1944 unter Beweis. Sie folgen der Verantwortung Ihres Gewissen, nicht leichtfertig, sondern nach sorgfältigem Urteil. Stauffenberg und Tresckow, Beck und Hoepner folgen Scharnhorsts Spuren.
Bei Gründung der Bundeswehr ist für Baudissin die Reformarbeit ohne den Bezug auf die preußischen Reformer undenkbar. Seine Vorstel­lungen gründen auf den freiheitlichen Traditionslinien der preußischen Reformer – Freiheit und Recht, Frieden und Menschenwürde. Er will die Werteordnung des Grundgesetzes auf die Streitkräfte zu übertragen und sie als Norm für die militärische Ordnung verbindlich machen. Geistige Reform und militärische Effizienz müssen miteinander verknüpft werden. Der Soldat:

  1. darf nicht nur Spezialist sein,
  2. muss lernen, in Zusammenhängen zu denken,
  3. muss in die Gesellschaft integriert werden,
  4. braucht einen überzeugende politische und moralische Idee.

Baudissin zielt auf eine Militärreform im Geiste Scharnhorsts – eine Reform, die in ihren Strukturen und Formen zu der neuen gesellschaftlichen, politischen und strategischen Situation der jungen Bundesrepublik passt. Diese Zusammenhänge werden über die Wahl von Scharnhorsts 200. Geburtstag als Gründungstag der Bundeswehr ins Stammbuch der neugegründeten Bundeswehr geschrieben.

scharnhorst_clip_image002Gerhard von Scharnhorst „Unter den Linden“ –
gegenüber der Neuen Wache/Doreen Bierdel

Vision und Tatkraft, Experimentierfreude und Praxisbezug, Fragen stellen, die jenseits von Status-quo-Denken liegen – dies waren unverwechselbare Merkmale von Gerhard von Scharnhorst. Er hat gemeinsam mit den anderen preußischen Reformern gezeigt, dass man zukunftsweisend agieren kann – geschichtsbewusst, verantwortungsvoll die Gegenwart gestalten und mit weitem Blick nach vorn. Heute schaut er von seinem Sockel gegenüber der „Neuen Wache“ in Berlin Unter den Linden, wie seine Nachfolger die Herausforderungen ihrer Zeit meistern.